Reiner Will "Artefakte aus dem späten 20ten Jahrhundert"

Reiner Will klaubt Dinge vom Boden auf, die andere übersehen. Sie sind die Motive dieser Bilder. "Artefakte aus dem späten 20ten Jahrhundert" nennt er seine Ausstellung und beamt uns damit in die Zukunft, denn der archäologische Begriff Artefakt bedeutet: Gegenstand aus vorgeschichtlicher oder historischer Zeit, der menschliche Bearbeitung erkennen läßt.

Versetzen wir uns in einen Archäologen des ausgehenden 3.Jahrtausends (vorausgesetzt die Gattung Mensch nimmt dann noch teil am Spiel der Evolution): Er versucht, das Gefundene zu klassifizieren, Lebensbereichen zuzuordnen, Rückschlüsse auf die unbekannte Kultur zu ziehen, deren Artefakte da vor ihm liegen: Es handelt sich offensichtlich nicht um Werkzeuge (bis auf 1 Modell eines Messers), nicht um Gefäße - Teile von Schmuck vielleicht? Spielzeugreste? Oder Amulette und Votivgaben aus der Endzeit des magisch-religiösen Denkens? Er neigt zu letzterem: Die Dinge wurden in Massenproduktion hergestellt, wie die zu erkennenden Gußnähte verraten - der Archäologe ist verwundert darüber, wieviel geistige und wirtschaftliche Ressourcen für die Herstellung verwendet wurden, sie mußten also sehr wichtig sein, deshalb scheinen ihm Opfer- bzw. Votivgaben am naheliegendsten - dieser Torso einer Walflute z.B. könnte die Beschwörung einer noch rudimentär vorhandenen Tierwelt sein, wie ein letztes Echo auf sie.

Die Materialanalyse ergibt: überwiegend verschiedene Kunststoffe, von denen einige immer noch hergestellt werden, wenig Porzellan, kaum Metall - was ihn nicht verwundert, da die Ressourcen für diesen Werkstoff seit längerem auf der Erde nicht mehr vorhanden sind.

Besonderes Kopfzerbrechen bereitet ihm die Merkwürdigkeit der Fundorte: große unbebaute Flächen in städtischen Ballungsräumen, es sind aber keine Brand- oder Schmelzspuren zu verzeichnen, die auf Katastrophen hinweisen würden, wohl hin und wieder Spuren von Verletzung / etwas Abgebrochenes, Verschürftes, Torsi. Ob es sich dabei um Abnutzungen / Gebrauchsspuren oder absichtlich zugefügte Verletzungen handelt, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Bemerkenswert ist: Offensichtlich handelt es sich nicht um ehemalige Müllhalden, da sich dort auch anderes finden ließe (Gefäße, Gerätschaften, Lumpen usw.) - all das fehlt hier, als einziges noch Scherben von Glas und runde, am Rand in Zackenform hochgebogene Metallstückchen von ca. 3 cm Durchmesser - auch hier keine Hinweise auf eine mögliche Funktion. Wenn es sich tatsächlich um Votivgaben handeln sollte, könnten die Fundorte evtl. religiöse Versammlungsorte für große Menschenmengen gewesen sein.

Welche Rückschlüsse ließen sich ziehen auf den Zustand / die Kultur dieser untergegangenen Gesellschaft? Es finden sich keine einheitlichen Stilmerkmale, es scheint eine Offenheit für alle Stile und Ausdrucksformen gegeben zu haben, möglicherweise ein Hinweis auf eine bereits damals existierende Weltkultur (der es anfangs schwer fiel, Kategorien wie schön / häßlich, wahr / falsch neu zu definieren). Die Darstellung ist meist ins Niedliche oder Groteske verzerrt - eine Art Manierismus wie er immer am Ende einer Epoche, in Umbruchsituationen anzutreffen ist.

Auffällig ist eine besondere Vorliebe für das Miniaturisierte (die Bilder vergrößern die Fundstücke um ein Vielfaches). Gab es eine Angst vor Größe und wenn ja, warum? Ist diese "Verzwergung der Welt" Ausdruck von herrschender Überbevölkerung oder umfassender Infantilisierung der Gesellschaft? Der Archäologe neigt zu letzterem, denn ihm fällt eine weitere Merkwürdigkeit auf: Dargestellte Lebewesen lächeln immer - selbst dieses Geflügel (auf der Einladungs-karte), dem eigentlich eine solche Möglichkeit des Gefühlsausdrucks fehlt. Wenn dies Lächeln kein Spiegel einer rundum glücklichen Gesellschaft ist, denkt der Archäologe, kann es sich nur um eine Beruhigungsstrategie handeln. Er entwirft für sich das Bild einer zutiefst verängstigten Gesellschaft, die sich eine zweite Realität im Miniaturmodell schaffen mußte, weil ihr die erste Realität nicht mehr handhabbar erschien.

Möglicherweise ist unser Archäologe zuerst auf diese Bilder gestoßen und hat daraufhin mit den Grabungsarbeiten begonnen.

Reiner Will hat die einzig brauchbare Methode gewählt, um diese Dingwelt für die Zukunft zu erhalten: die Malerei. Fotos verblassen, von digitalen Speichermedien ganz zu schweigen: CDs / DVDs haben eine rasante Verfallszeit und schon heute kann man gespeicherte Daten nicht mehr lesen, weil es die Programme nicht mehr gibt und die Programmierer, die sie geschrieben haben, verstorben sind.

Die Darstellung geht aber über die bloße Information wie die Dinge aussahen hinaus: Die ihnen geschehenen Verletzungen / Brüche / Abschürfungen werden quasi wieder gut gemacht durch die Art der Malerei, die sich ganz dem Darzustellenden widmet und sich keine davon ablenkende Expression erlaubt. Das Nutz- und Wertlose, Weggeworfene findet eine Beachtung, erhält eine Aura die es vorher nie hatte. Wir sehen diese Dingwelt wie zum erstenmal und ihre Seltsamkeit wird uns erst durch die Bilder bewußt.

Der Archäologe vom Ende des 3.Jahrtausends kann dankbar sein.

Anne Schlöpke 17.11.2006